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Samstag, 18. Juni 2016

Harper's Magazine: Wir haben keine Rechte, aber wir sind am leben, Teil 2


Für Syrien gibt es keine verlässliche Zahlen zur Homosexualität, aber verglichen mit anderen Ländern des Mittleren Ostens kann man sagen, dass es so etwas wie ein sicherer Hafen ist für homosexuelle Männer und Frauen. Auch wenn Artikel 520 des syrischen Bürgerlichen Gesetzbuches eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht für "unnatürlichen sexuellen Verehr" wird das Gesetz nicht angewandt. In einem Artikel des Spectator erinnert sich der britische Autor John R. Bradley an den Besuch eines Cafes in Damaskus einige Jahre vor Beginn des Bürgerkrieges. Er wurde fast sofort von einem anderen Mann angesprochen: "Es stellte sich heraus, dass das Cafe - voller Männer jeden Alters und Hintergrundes, von englischsprechenden Jugendlichen bis älteren Beduinen - ein Schwulentreff war." Bradley schlussfolgerte, dass so lange sie sich unauffällig verhielten genossen schwule Männer in Damaskus eine erstaunliche Freiheit.

Wenn überhaupt, dann hat sich diese Freiheit in den letzten vier Jahren vergrößert. Da sie voll mit der politischen Opposition beschäftigt waren hat die Geheimpolizei lange Zeit die sexuelle Dissidenz ignoriert; und nun mitten in diesem Konflikt mit mehr als einer Dreiviertel Million Toten haben sie drängendere Probleme. "Es ist ihnen egal," sagte Hassan. "Der Muchabarat ist auch zu beschäftigt, ja, aber auch, weil die ganze Gesellschaft in Aufruhr ist. Die Leute kümmern sich in erster Linie um sich selbst."

Sicherlich gibt es auch in Syrien eine homophobe Grundstimmung. Ein paar Tage nach meinem Treffen mit Hassan erwähnte ich das Thema gegenüber ein paar Polizisten und pro-Assad Paramilitärs, die im Industriegürtel um die von der Regierung kontrollierten Stadt Aleppo patrollierten. Wäre Homosexualität, fragte ich laut, ein gutes Thema für einen ausländischen Journalisten? Die Englischsprecher unter ihnen schauten mich an, als hätte ich ihre Mütter beleidigt. "Sodomie ist schmutzig," sagte einer. "Schreib nicht darüber," fügte mein Übersetzer hinzu. "Das ist nichts Syrisches."

Zu Beginn des Aufstandes, der vom Arabischen Frühling inspiriert wurde standen einige in der Schwulenszene den Protestierenden positiv gegenüber. Als ich Hassan 2013 das erste Mal traf, da beklagte er die Korruption der Landeselite und sagte mir, wie sehr er am Anfang hin und hergerissen war zwischen dem sklerotischen, aber vertrauten Regime und der jugendlichen, idealistischen Rebellion. Dass er sich am Ende für das Regime entschied bedeutete nicht, dass er mit dem status quo zufrieden war. "Wir können Händchenhalten, wir können uns auf die Wange küssen," erzählte er mir in der Bar. "Aber wir können nichts wirklich schwul leben." Öffentliche Bekentnisse zur Homosexualität sind ein Tabu.

Doch er anerkennt auch, dass er nicht in der Lage sei, diese Ungerechtigkeit zu beenden. Hassan ist auch nicht nur schwul, sondern ist auch Agnostiker mit einem schiitischen Hintergrund - und deswegen in den Augen vieler sunnitischer Islamisten nicht nur ein zu bestrafender Sünder, sondern auch ein Häretiker. Wie Syriens Homosexuelle stehen auch die religiösen Minderheiten des Landes überwiegend hinter Assad; im Unterschied zu den anderen sind Homosexuelle nur einfach unsichtbar. "Das syrische Regime ist nicht schlecht zu Schwulen," erinnert mich Hassan an diesem Abend in der Bar. "Es ist nicht gut, aber es ist auch nicht schlecht. Wir haben keine Rechte, aber wenigstens sind wir am leben."

Am Tag nachdem ich aus Aleppo zurückkam traf ich Samir im zweiten Stock einer Brauerei in der Innenstadt von Damaskus, wo er glaubte, dass es sicher sei für ein Gespräch. Der Überschwang, mit dem er mich begrüsste verschwand in dem Moment als wir uns hinsetzten. "Ich fühle mich damit nicht wohl," sagte. Soldaten im aktiven Dienst ist es nicht erlaubt mit ausländischen Journalisten zu sprechen. Er willigte ein, das Interview zu führen mit den Bedingungen, dass ich das Gespräch nicht aufnehme, mein Telefon ausschalte und seinen echten Namen nicht nennen würde.

Samit begriff das erste Mal mit sechs Jahren, dass er schwul ist. Es passierte im Schwimmad. "Ich sah die Jungs und die Mädchen," sagte er mit einem Grinsen, "und begriff, dass ich die Jungs bevorzuge." Erst später, 2001 inmitten seiner Jugend, hörte er von Homosexualität; bis dahin nahm er an, dass er der einzige sei. Er verbrachte Jahre mit Leugnen und hielt sogar um die Hand einer Frau an, mit der er eine Weile zusammen war. Sie waren 12 Monate lang verlobt. Als er ihr am Ende die Wahrheit mitteilte musste er sie erst davon überzeugen, dass es kein Scherz war. Nach der Trennung blieben sie Freunde.

2009 dann erzählte es Samir seiner Mutter. Sie weinte als er es ihr erzählte, aber sie fand sich inzwischen damit ab. (Sein Vater und Bruder wissen noch immer nichts.) Etwa zur selben Zeit begann er eine ernste Beziehung mit einem anderen Mann, aber beendete es, nachdem er 2011 zu Beginn des Aufstandes zum Militär eingezogen wurde. In Friedenszeiten dauerte der Militärdienst in der Regel 18 Monate, aber bislang diente Samir viereinhalb Jahre in der Armee. Alle drei Monate bekommt er fünfzehn Tage frei und es war an einem dieser Tage vor drei Monaten in Damaskus, als er diesen jungen Kunststudenten kennenlernte, mit dem er nun zusammen ist. Samir sagte, dass er in Damaskus an die dreihundert Homosexuelle kennt, die meisten davon Männer. So weit er weis, wurde keiner von ihnen je verhaftet und den Bars, in die sie gingen machte ihre Anwesenheit nichts aus, vorausgesetzt, sie würden kein "Dirty Dancing" aufführen, wie Samir es ausdrückte.

Aber die Abwesenheit formeller Rechte macht syrische Homosexuelle angreifbar. Vor ein paar Monaten saß Samir in der Bar wo wir uns das erste Mal trafen, als ein Freund von ihm zu einer Verabredung ging, die per Grindr, der Dating-App für Schwule, arrangiert wurde. Samir warnte ihn nicht zu gehen und am Ende sollte er recht behalten mit seiner Besorgnis. Die Verabredung war eine Falle: Zwei Männer lauerten seinem Freund auf, stahlen sein Telefon und seinen Geldbeutel. Als er ein paar Stunden zur Bar zurückkam war er von blauen Flecken übersäht. Samit sagte, dass nur wenige aus der Szene ihre Sympathie ausdrückten; es war die alleinige Schuld des Freundes, so dachten sie. Lange danach noch machten sie in der Bar Scherze darüber, indem sie ihn fragten, ob sie sein Telefon benutzen könnten, um sich dann zu erinnern, dass er es ja nicht mehr hätte. Wie auch Hassan schiebt Samir die Herzlosigkeit darüber auf die traditionelle syrische Gesellschaft, nicht aber auf Assad. "Selbst Heteros können ihre Gefühle bei uns nicht wirklich ausdrücken," sagte er. Es klang mehr wie Resignation, als eine Beschwerde.

Samir war klar, dass es auch schlimmer sein könnte. Ein Freund von ihm verliess vor kurzem hastig Rakka, nachdem die Religionspolizei des Islamischen Staates einen Bekannten von ihm wegen Homosexualität exekutierte. Laut Samirs Freund wurde der Vater des Bekannten ebenfalls getötet, da er "offenbar nicht wusste, wie man einen Sohn erzieht".

die anderen islamistischen Fraktionen, die in Syrien kämpfen - Jabhat al-Nusra, Ahrar al-Sham - wären wohl vergleichbar barbarisch. Samir erzählte von einem anderen Freund, einem Angestellten eines rebellenfreundlichen Medienunternehmens in Aleppo, der die Stadt verliess, nachdem Mitglieder von Jabhat al-Nusra einen seiner Kollegen verhaftete und zusammenschlug, weil dieser schwul war. "Nun hasst er jeden," sagte Samir. "Das Regime, die Opposition." Obwohl Samir, wie auch Hassan mit dem Gedanken spielte, die Revolte gegen Assad zu unterstützen kam er zum Schluss, dass diese dem Land großen Schaden zufügen würde. "Sie verlangten nach Freiheit, aber nun nehmen sie uns die Freiheit weg," sagte er. "Nicht nur die schwule Freiheit, sondern die Freiheit von allen."

Der andere Tisch im Bereich wo wir saßen wurde von einer kleinen Familie belegt, die leise miteinander sprach, aber da sie heimlich Notizen machen machte Samir nervös. Während unseres Gesprächs ging eine Bedienung zum Vater und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Samir vermutete, dieser sagte ihm "Falls dir etwas schlimmes passiert, lass es mich wissen." Er hatte Angst, dass wir beobachtet würden, und dass es eine Razzia durch die Muchabarat geben könnte. Innerhalb von 20 Sekunden waren wir die Treppe unten und standen auf der Strasse. Ich fragte ihn, wie er nur damit leben könne, die ganze Zeit über die Schulter blicken zu müssen. "Das ist notwendig," sagte er, "du könntest vom Islamischen Staat sein."


Harper's Magazine: Wir haben keine Rechte, aber wir sind am leben, Teil 1

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Im Original: We Don’t Have Rights, But We Are Alive

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